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Wahrheiten.

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Wahrheiten.

"Jetzt sind wir tatsächlich hier", sagt er.
"Ja, mein liebster Herr, jetzt sind wir hier", antwortet sie und hält seine Hand ganz fest.
Seine Hand, die ihr so oft so weh getan hat und die sie so oft so sehr liebkost hat.
Sie kennt jede Falte, jede alte Narbe, jeden Millimeter der Haut.
"Es wird uns niemand stören," sagt er. "Ich habe das so bestimmt."
Er lächelt schwach.
"Du erinnerst Dich gerade an unser erstes Zusammentreffen, nicht wahr?"
"Ja", nickt sie und hat Mühe, die Tränen zu unterdrücken, die ihr bei der Erinnerung an diesen Tag vor so endlos vielen Jahren hochsteigen wollen. Ihre Stimme ist leise.
Seine ist sogar jetzt kräftig und sicher, wie sie es immer war.
"Ich weiß noch, wie ich Dich das erste mal sah. Ich erinnere mich an Deine Unsicherheit. An die Sehnsucht in Deinen Augen. Aber Du warst nie schöner als jetzt, in diesem Moment."
Sie errötet leicht, versucht, sich das nicht anmerken zu lassen. Aber natürlich bemerkt er das sofort. Wieder sein Lächeln. Sie weiß, er sagt die Wahrheit. Das tut er immer.
"Und ich erinnere mich an Deine Gelassenheit," antwortet sie.
"Du bist sogar jetzt gelassen. Wie kannst Du nur so gelassen sein?" fragt sie mehr sich selbst als ihn.
"Das hier wird gleich vorbei sein," sagt er leise. "Aber ich will, dass Du mir Gesellschaft leistest und bleibst. Du bist mir immer gefolgt, aber diesmal wird das nicht gehen. Und ich werde Dir nicht mal böse sein können deswegen."

Sie betrachtet seine Hand; Die Haut ist rauh, ein wenig trocken, fleckig. Die Hand eines sehr alten Mannes. Sie wirkt sehr leicht, fast ätherisch.
"Du hast nie etwas versprochen, das Du später nicht eingehalten hättest", flüstert sie. "Das war mit ein Grund dafür, dass ich Dich erwählt habe und so sehr liebe. Und dafür, dass ich mich unterworfen habe."
"Ja", meint er nur, ohne zu nicken. "Ich weiß."

Stille.
Nur unterbrochen von den leisen Tönen, die von den Geräten ausgehen, an denen sein Körper angeschlossen ist. Sie lauscht auf diese Töne, versucht, irgendeinen Sinn darin zu finden.
Es will ihr nicht gelingen.
Zu unregelmäßig. Kein Muster erkennbar. Dabei liebt sie Muster doch so sehr.
"Du hast mir immer solche Sicherheit gegeben," sagt sie. "Ich hatte so etwas vorher ja nie erlebt. Du hast von Anfang an gewußt, was gut für mich ist. Selbst in den Momenten, in denen Du mir weh getan hast, hast Du das gewußt."
"Aber ich hoffe doch, ich habe Dich niemals abhängig von mir gemacht?" Er runzelt die Stirn.
Zum ersten mal wird sein Atem etwas schwerer. Er hat nun offensichtlich große Mühe, zu sprechen.
Sie will aufstehen, irgendetwas tun.
Ihm helfen.
"Bleib Sitzen!", befiehlt er mit ganz schwacher, gepreßter Stimme.
"Du kannst nichts tun. Also, wie war das mit der Abhängigkeit?"
Ein Schweißtropfen - einer von so vielen - rinnt langsam über seine Stirn und dann über sein fahles Gesicht, tropft in das Kopfkissen.
Das scheint ihn nicht zu stören.
Er hat keinen Grund, sich zu verstellen.
Hatte er nie.
"Nein... Ich hätte doch jederzeit gehen können. Aber ich wollte nicht. Keine Sekunde meines Lebens."
Sie schluchzt leise.
"Und ich will auch jetzt nicht weggehen!"
Trotzig.
"Du mußt ja auch nicht weggehen." Geflüsterter Galgenhumor. "Ich versprech's Dir."
"Aber Du hast mir mal gesagt, die Welt würde enden, wenn es Dich in meinem Leben nicht mehr geben würde."
"Das hab' ich nicht gesagt, sondern geschrieben", entsinnt er sich leise lächelnd, "in einem meiner ersten, langen Briefe an Dich. Hast Du das geglaubt?"
Sie nickt ernsthaft.
"Also bist Du auch aus Angst davor bei mir geblieben?"
"Vielleicht... Ich weiß nicht. Du hast doch immer das eingehalten, was Du gesagt hast. Immer!"
"Aber das war doch metaphorisch gemeint, meine Schöne".

Seine Stimme ist plötzlich ganz schwach, er hat die Augen halb geschlossen.
Die Töne, die die Geräte von sich geben, werden unregelmäßiger.
Das verwirrt sie.

"Für mich war das eine Wahrheit," sagt sie und betrachtet sein Gesicht.
"Eine große Wahrheit. Für mich war doch immer alles Wahrheit, was von Dir kam."
Er versucht, zu lächeln. Ein Speichelfaden rinnt aus seinem Mundwinkel.
Er röchelt ganz leise.
Er verkrampft sich ein wenig.
Er hält ihre Hand ganz fest.

Einige Minuten vergehen so.
Dann öffnet er die Augen zu ganz schmalen Schlitzen, sieht sie an.
Er flüstert rauh: "Es war auch immer wahr. Alles, was ich Dir jemals gesagt und geschrieben habe, war immer und umfassend die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Weil ich Dich immer geliebt habe. Und wenn ich Dir nicht immer die Wahrheit gesagt hätte, wie hätte ich Dein Herr sein dürfen? Wie denn hätte ich Dich anlügen und Dir gleichzeitig weh tun, über Deinen Körper verfügen dürfen?"

Er hustet.
Ein kurzes Aussetzen der Töne, gefolgt von einem leisen, hektischen Stakkato von Pieptönen.
Es fällt ihr schwer, ruhig sitzen zu bleiben.
Stille.

"Ich muss jetzt gehen", flüstert er dann unvermittelt ganz leise.
"Es ist Zeit."
Sein Atem rasselt.
"Aber die Welt wird untergehen, wenn Du nicht mehr da bist", schluchzt sie. "Das hast Du geschrieben. Und das ist doch die Wahrheit."
Mit ihrem Daumen streichelt sie hektisch seinen Handrücken.
Dann beugt sie sich etwas vor, hebt seine Hand an ihren Mund, küsst sie sanft.
Er versucht, zu lächeln.
"Ich... liebe... Dich..!" kommt es ganz leise, kaum hörbar, über seine Lippen.
"Mein... Herr."
Sie flüstert es.
Seine Hand verkrampft sich kurz und wird dann ganz, ganz weich.
So, wie sie das immer war, wenn er sie nach einem Spiel liebkost und gestreichelt hat.

Die Töne der Überwachungsgeräte setzen aus und einen Moment lang ist es vollkommen still.
Sie hält weiter seine Hand fest.
Wartet.
Dann...: ein leiser Ton, diesmal durchgehend.
Sie blickt nicht zu den Monitoren.
Das muss sie auch gar nicht.
Sie schaut zu seinem Gesicht.
Ein wenig schweißverklebt sieht es aus.
Sehr helle Bartstoppeln.
Geschlossene Augen.
Erschöpft.
Entspannt.
Gelassen.
Er ist nicht mehr da.

Dann lässt sie den Blick schweifen.
Über das Bett, zum Fenster, zu den Lichtern der nächtlichen Stadt.
Zum klaren Nachthimmel.
Sie wartet.
Und wartet.

Und dann...
Erlöschen die Sterne.
Einer nach dem anderen.
Eine Geschichte über Wahrheiten. Und über Abschied.
© 2015 - 2024 My-Rho
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MartinSpez's avatar

Puh, wahnsinig nahegehend! Schön geschrieben!